Eine
Frau sitzt im Zimmer. Sitzt auf dem Fußboden vor zugezogenen Gardinen, damit
die Sonne ihre Haut nicht noch mehr verbrenne. Außer ihr sind noch drei andere
Figuren anwesend. Victor, Marisa, und eine, die einfach „das Mädchen“ genannt
wird. Was befindet sich jenseits der Fakten, die von der Erzählerin so
eindringlich beschrieben werden? Die Anspielungen sind vielfältig, doch keine
erlaubt es uns, die Verhältnisse, die hier bestehen, endgültig zu klären. Die
Geschichte bleibt ein Torso. Nur die Figuren wissen um ihre Beziehungen, ihre
Befindlichkeiten. Sie öffnen den Vorhang vor dem Bewusstsein des Lesers nur
einen Spalt breit, geben kurze Einblicke in ihre Welt, die ahnen lassen, was
hinter dem Vorhang geschieht.
Lilith im blauen Kleid ist der Titel für eine Geschichte, die
sich zur blauen Stunde, nach Mitternacht, ereignet haben könnte. Die
geheimnisvolle Henriette, die sich aus unerfindlichen Gründen Lilith nennt, ist
das lebendige Geschenk einer homosexuellen Frau an ihren Freund Ivo, denn sie
weiß, sie kann seinen Wunsch nach Intimität nicht erfüllen. Lilith ist für Ivo
die Erinnerung an „Nuda veritas“, ein Gemälde von Gustav Klimt. Die Treffen
zwischen Lilith und Ivo finden jenseits der Wirklichkeit, halb im Traum statt,
und die Geschichte endet gleich einer Choreographie: während eines Sommers, in
dem es ununterbrochen regnet, wird Lilith einfach wie eine Schaufensterpuppe in
ihr nasses Kleid gesteckt und auf den Balkon gesetzt.
Alle
weiteren Erzählungen in diesem Band von Gesche Blume halten diesen Ton durch. Auf der Treppe präsentiert, angelehnt an
Nabokovs Lolita, die erotische
Begegnung einer 14-jährigen mit dem Freund ihrer Mutter: „Ich trug noch
Söckchen, da kam eines Tages ein Besucher
in unser Haus.“ Die Sprache, von selbstbewusster, sich stellenweise
selbst parodierender Künstlichkeit, passt sich schonungslos dem juvenilen Alter
der Ich-Erzählerin an – und führt es ad absurdum. Als hätte die Autorin beim
Schreiben eine farbige Pille eingeworfenen oder durch ein Kaleidoskop geblickt,
entfacht der Erzählduktus nach und nach ein buntes, barockes oder besser:
jugendstil-artiges Feuerwerk. Gefährliche Liebschaften? Der Maler Lucian in Lustwandeln könnte einem Roman von Thomas Mann
entsprungen sein: Er liegt mit einem Lungenleiden im Krankenhaus, doch die
Behandlungsmethoden des Arztes sind alles andere als konventionell. Jeunesse dorée schließlich kommt als
selbstreflexives Manifest der Autorin und ihres Schreibens daher: „Wir leben in
einem Zeitalter der Auflösung. Fin de siècle-Stimmung spüren wir an allen Ecken
der Straßen, wo uns feine kühle Luft entgegenweht, wenn wir vor den Göttern
flüchten“, so das Bekenntnis an die Leserschaft
Die
äußere Wirklichkeit scheint in diesen Erzählungen verwandelt, nicht existent
– sie wird bestenfalls sporadisch, unter
der Decke metaphorierter Wahrnehmung sichtbar, und sie bietet den Protagonisten
keinen Trost. Im Gegenteil: sie treibt sie nur noch tiefer in die Erkenntnis,
dass Erlösung aus den unbewältigten Machtverhältnissen nur in der persönlichen
und letztendlich körperlich-erotischen Begegnung zweier Individuen statt finden
kann. Es gibt kein Ideal, keinen Gott, keine Ideologie, kein schützenden Außen.
Gesche
Blume trägt mit ihrem Erzählband Lilith
im blauen Kleid die Überreste einer längst verflossenen Ära in die
postmoderne Lebenswelt. Sie mischt technische Kühle mit konstruierter
Sinnlichkeit. Fasziniert von den heimlichen Katastrophen, die sich lautlos und
fern vom Licht der Öffentlichkeit ereignen, konzentriert sich die Autorin wie
eine Impressionistin auf den Moment.
Gesche Blume: Lilith im blauen Kleid. Leipziger Literaturverlag 2006.