Dienstag, 29. Juli 2014

Lilith im blauen Kleid

Eine Frau sitzt im Zimmer. Sitzt auf dem Fußboden vor zugezogenen Gardinen, damit die Sonne ihre Haut nicht noch mehr verbrenne. Außer ihr sind noch drei andere Figuren anwesend. Victor, Marisa, und eine, die einfach „das Mädchen“ genannt wird. Was befindet sich jenseits der Fakten, die von der Erzählerin so eindringlich beschrieben werden? Die Anspielungen sind vielfältig, doch keine erlaubt es uns, die Verhältnisse, die hier bestehen, endgültig zu klären. Die Geschichte bleibt ein Torso. Nur die Figuren wissen um ihre Beziehungen, ihre Befindlichkeiten. Sie öffnen den Vorhang vor dem Bewusstsein des Lesers nur einen Spalt breit, geben kurze Einblicke in ihre Welt, die ahnen lassen, was hinter dem Vorhang geschieht.

Lilith im blauen Kleid ist der Titel für eine Geschichte, die sich zur blauen Stunde, nach Mitternacht, ereignet haben könnte. Die geheimnisvolle Henriette, die sich aus unerfindlichen Gründen Lilith nennt, ist das lebendige Geschenk einer homosexuellen Frau an ihren Freund Ivo, denn sie weiß, sie kann seinen Wunsch nach Intimität nicht erfüllen. Lilith ist für Ivo die Erinnerung an „Nuda veritas“, ein Gemälde von Gustav Klimt. Die Treffen zwischen Lilith und Ivo finden jenseits der Wirklichkeit, halb im Traum statt, und die Geschichte endet gleich einer Choreographie: während eines Sommers, in dem es ununterbrochen regnet, wird Lilith einfach wie eine Schaufensterpuppe in ihr nasses Kleid gesteckt und auf den Balkon gesetzt.

Alle weiteren Erzählungen in diesem Band von Gesche Blume halten diesen Ton durch. Auf der Treppe präsentiert, angelehnt an Nabokovs Lolita, die erotische Begegnung einer 14-jährigen mit dem Freund ihrer Mutter: „Ich trug noch Söckchen, da kam eines Tages ein Besucher  in unser Haus.“ Die Sprache, von selbstbewusster, sich stellenweise selbst parodierender Künstlichkeit, passt sich schonungslos dem juvenilen Alter der Ich-Erzählerin an – und führt es ad absurdum. Als hätte die Autorin beim Schreiben eine farbige Pille eingeworfenen oder durch ein Kaleidoskop geblickt, entfacht der Erzählduktus nach und nach ein buntes, barockes oder besser: jugendstil-artiges Feuerwerk. Gefährliche Liebschaften? Der Maler Lucian in Lustwandeln  könnte einem Roman von Thomas Mann entsprungen sein: Er liegt mit einem Lungenleiden im Krankenhaus, doch die Behandlungsmethoden des Arztes sind alles andere als konventionell. Jeunesse dorée schließlich kommt als selbstreflexives Manifest der Autorin und ihres Schreibens daher: „Wir leben in einem Zeitalter der Auflösung. Fin de siècle-Stimmung spüren wir an allen Ecken der Straßen, wo uns feine kühle Luft entgegenweht, wenn wir vor den Göttern flüchten“, so das Bekenntnis an die Leserschaft

Die äußere Wirklichkeit scheint in diesen Erzählungen verwandelt, nicht existent –  sie wird bestenfalls sporadisch, unter der Decke metaphorierter Wahrnehmung sichtbar, und sie bietet den Protagonisten keinen Trost. Im Gegenteil: sie treibt sie nur noch tiefer in die Erkenntnis, dass Erlösung aus den unbewältigten Machtverhältnissen nur in der persönlichen und letztendlich körperlich-erotischen Begegnung zweier Individuen statt finden kann. Es gibt kein Ideal, keinen Gott, keine Ideologie, kein schützenden Außen.


Gesche Blume trägt mit ihrem Erzählband Lilith im blauen Kleid die Überreste einer längst verflossenen Ära in die postmoderne Lebenswelt. Sie mischt technische Kühle mit konstruierter Sinnlichkeit. Fasziniert von den heimlichen Katastrophen, die sich lautlos und fern vom Licht der Öffent­lichkeit ereignen, konzentriert sich die Autorin wie eine Impressionistin auf den Moment.


Gesche Blume: Lilith im blauen Kleid. Leipziger Literaturverlag 2006.

Donnerstag, 23. Januar 2014

Ein Plädoyer für die Elster-Bar

Der Abstieg hatte schon länger begonnen. Drinnen war jetzt ein Frisör, im Fenster ein kleiner Stern, der das Dunkle, Regenichte müde beleuchtete, ganz als hätte ein Arzt sich endlich zur Untersuchung seines Patienten entschlossen und ein mit Schwachstrom betriebenes Instrument hervorgeholt. Das matte Plakat in Schwarzweiß mit dem schönen Jüngling war nur von feinen und geübten Augen zu erahnen – und meine Kurzsichtigkeit war mit einem Mal kein Manko mehr, sondern von lustvoller Zärtlichkeit gegenüber dem zweidimensionalen Objekt. Das Ramschlädchen mit den Stoffvorhängen, vor dem die Straßenbahn hielt, blieb dagegen in finsterer Nacht. Ein paar Haselnüsse blühten schon, der Regen fiel in transparenten Punkten gleichmäßig wie im Schlaf. Du hättest gesagt, das ist die Jahreszeit, zu der man in diese Bar nicht gehen kann. Ich denke, das hast du ja gar nicht gesagt. Ich denke, ich und du und unsere gemeinsamen Essen in dem auf dem Abstieg befindlichen Lokal sind so straff miteinander verwoben, dass eine Trennung unmöglich ist. Ein strenges Muster in einem abfälligen Gottesplan. Zum Würfeln hat er nie geneigt, der Alte, und wenn er es hier einmal getan hätte, drei Sechsen wären diese Stunden mit dir und mir, dem Putengenuss und deinem aufgestellten Patent sicher nicht gewesen. Ich blicke in den Regen, die Uhr an der Straßenbahnanzeige steht auf 07:07. Bei Schnappszahlen denkt ein Engel an dich. Minuten später steige ich in die Bahn und die Erinnerung klammert sich an meinem Rücken fest. Offenbar will sie mitfahren. Ich knipse den Fahrschein und lächle ihr zu.